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  • AutorenbildUrsula Wohlrab

Nie endend wollender Alptraum - plötzlicher Todesfall

Aktualisiert: 18. Sept. 2023

29. April... Der Horror dieses Tages holt mich in diesem Jahr bereits eine Woche davor ein. Das Aufflackern von Erinnerungen, Bildsequenzen, Geräuschen, Gerüchen, Schock, Realitätsverlust, Grauen, Schlaflosigkeit, massiven Verlustängste, Depression… Das Gefühl des nie endenden Alptraums.


Es ist kurz vor 6 Uhr in der Früh. Ich wache auf, spüre sofort: Etwas stimmt nicht. Mein Partner Jürgen liegt nicht neben mir im Bett. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, jeder muss mal auf die Toilette oder etwas trinken, doch die Wohnung ist unnatürlich still. Ich rufe. Keine Antwort. Stehe auf. Das Bad ist leer, die Küche ebenfalls. Doch nein, das stimmt nicht. Warum hat sich Jürgen denn zum Schlafen auf den kalten Küchenboden gelegt? Unverständnis wechselt abrupt zu blankem Entsetzen.


Ein Riss in der Zeit entsteht, die Realität verschiebt sich von einer Sekunde auf die andere. Ich reisse das Telefon aus der Station, wähle völlig mechanisch 112, rufe den Notruf über Lautsprecher, während ich neben Jürgen knie und mit der Herzmassage und Mund zu Mundbeatmung beginne. Die nächsten 20 Minuten sind ein Wechsel zwischen hysterischem Betteln, der Notarzt möge sich beeilen, dem verzweifelten Flehen, Jürgen möge zurückkommen und mechanischen Wiederbelebungsversuchen, während mein Körper von Weinkrämpfen geschüttelt wird. Mein Inneres weigert sich zu verstehen, was mein Verstand längst verstanden hat. Der Horror ist so gross, die Situation so grausam, dass ich sämtliche Logik und alle Emotionen abspalte. Ein Zustand, den man niemanden erklären kann, der ihn nicht kennt. Du spürst alles und nichts. Du bist wie im Koma und doch hellwach.


Der Notarzt kommt, ich werde bei der Herzmassage abgelöst. Jürgen wird aus der Küche in den Essbereich gezogen, da dort mehr Platz ist. Während ein Sanitäter Jürgens T-Shirt zerschneidet um die Geräte anzuschliessen und eine Infusion zu legen, denke ich „Jürgen friert bestimmt…“. Es findet ein Wechsel zwischen Herzmassage und Defibrillator statt. Doch das durchgehende Piepen bleibt. Ein Geräusch, das mich seitdem begleitet, ebenso wie die offenen Augen meines Partners und die Geräusche, die sein Körper während der Beatmung macht. Eine Stunde dauert es, ehe das Rettungspersonal aufgibt. Ich glaube heute, dass ein Teil der Zeit für mich investiert wurde, denn es war sehr schnell klar, dass man Jürgen nicht retten konnte. Er war plötzlich und vollkommen unerwartet gegen 4 Uhr in der Nacht an einer Lungenembolie verstorben. Die Notärztin teilte mir mit, dass ich nichts hätte tun können, doch dies ändert nichts daran, dass ich mir Vorwürfe mache. Wäre ich doch aufgewacht, hätte ich ihn doch vorher zum Arzt geschickt. Die Vorwürfe einer Überlebenden, die die Situation bis heute nicht verstanden hat.


Mittlerweile sind Jahre vergangen, ich führe ein zufriedenes und glückliches Leben. Es heisst die Zeit heilt Wunden. Einen Scheiss tut sie! Sie hilft, dass Du nicht mehr ständig daran denkst, es nicht mehr in einer Dauerschleife durchlebst, doch der Schock, der Horror, der Schmerz, das Unverständnis, das Grauen bleiben in Deinem Inneren vollkommen unverändert erhalten. Es lauert im Hintergrund. Ein Geräusch, ein Geruch, eine Erinnerung und schon bricht es hervor. Oft braucht es nicht einmal das um mich in diesen Alptraum zurück zu katapultieren.


Mir haben nach Jürgens Tod liebe Menschen zur Seite gestanden. Ich bin Ihnen unendlich dankbar. Doch keiner, der nicht das gleiche oder etwas Ähnliches erlebt hat, kann Dir helfen. Wahrscheinlich nicht einmal die. Die Welt hört auf zu existieren. Es ist, als ob Du im Kino sitzt und einen Actionfilm ansiehst. Plötzlich teilt sich die Leinwand. Auf der einen Seite erscheint ein Horrorfilm den nur Du sehen kannst. Alle anderen Besucher sehen den Actionfilm den Du vorher auch gesehen hast, der dir nun aber plötzlich verborgen ist. Egal was Du zu erklären versuchst, Deine Situation wird nicht verstanden, denn keiner ausser Dir sieht den anderen Film. Die Welt ist plötzlich zweigeteilt und es gibt kein zusammen mehr.


Ich habe mich jeden Morgen darüber gewundert, dass die Sonne aufgegangen ist. Etwas, das in meiner Realität plötzlich unmöglich zu sein schien. Es klingt verrückt, doch die Dinge, die wir sonst als selbstverständlich wahrnehmen sind es auf einmal nicht mehr. Da ich es nicht anders gelernt habe, habe ich mechanisch, roboterhaft all die Dinge erledigt, die zu erledigen waren. Ich habe mich artig bedankt, wenn man mir herzliches Beileid gewünscht hat obwohl ich einfach nur schreien wollte. Die Aussenwelt war stolz auf mich, wie tapfer und stark ich war. Wie es mir wirklich ging, bekamen nur sehr wenige Menschen mit. Weinkrämpfe und Nervenzusammenbrüche erlitt ich alleine in unserer gemeinsamen Wohnung. In dieser Zeit habe ich gelernt, dass der Mensch Angst vor seiner Endlichkeit hat und dass das, was ihn daran erinnert möglichst schnell weggeschoben wird. Nach kürzester Zeit fielen Sätze wie „Du musst nach vorne sehen!“ „Das Leben geht weiter!“ „Die Zeit heilt Wunden!“ Ja Euer Leben geht weiter, denn es ist nicht entgleist und ihr wollt an diese Möglichkeit nicht erinnert werden.


Ich habe weitergelebt. Mechanisch getan, was zu tun war, was man von mir erwartet hat. Habe mich trotz der Leere und des ständigen Grauens gegen den Tod entschieden. Ich habe darüber nachgedacht während ich mit überhöhter Geschwindigkeit über die Autobahn gerast bin und ein LKW auf meine Spur zog. Es wäre ein so Leichtes gewesen noch etwas mehr Gas zu geben und all dem ein Ende zu setzten. Ob es geklappt hätte? Ich weiss es nicht, denn ich habe mich dagegen entschieden. Ich habe in diesem Moment Jürgen und meine verstorbenen Grosseltern vor mir gesehen. Ich spürte dass sie bei mir sind und ich wusste, es wäre falsch, ich würde sie enttäuschen. Ich habe die Situation gemeistert, wie viele folgende. Oft nur durch Routine und/oder Glück.


Ich habe fast 2 Jahre lang nur noch in Extremem gespürt. Diese Situationen habe ich häufig beim Autofahren provoziert. Immer so, dass kein anderer ausser mir gefährdet wurde. Heute weiss ich, dass mein Verhalten Wahnsinn war und ich unfassbares Glück hatte, dass nie etwas schief gegangen ist.


Mein Verhalten wird Aussenstehenden irrational und idiotisch vorkommen, doch wenn Du in einem Alptraum gefangen bist, nichts mehr spüren kannst ausser dem Horror des Moments des Auffindens Deines verstorbenen Partners, dann versuchst Du alles um aufzuwachen, zu entfliehen oder Du ergibst Dich und gibst auf.


Ich schreibe das nicht, um Mitleid zu bekommen. Das Leben ist wie es ist und der Tod gehört dazu. Ich schreibe es, weil ich das Erlebte bis heute nicht verarbeitet habe. Es holt mich immer wieder ein und reisst mich aus der Bahn. Spätestens am Todestag stehe ich innerlich vollkommen neben mir. Ich versuche es hiermit ein bisschen realer werden zu lassen, indem ich es nicht mehr verberge.


Ich schreibe es, weil ich meiner Umwelt verzweifelt versucht habe, alles zu erklären. Zu erklären, was in mir, mit mir passiert. Doch keiner konnte es verstehen. Vielleicht gelingt es heute, denn es ist nach wie vor ein Teil von mir.


Ich schreibe es für die Menschen, die Ähnliches erleben mussten oder müssen. Zum Beispiel eine liebe Freundin in Amerika, die Ihren Mann plötzlich und unerwartet durch einen Autounfall verlor und seitdem ebenfalls in Ihrem Alptraum gefangen ist. Auch sie kann Ihrer Umwelt den Schock, den Horror, den unendlichen Schmerz und was in und mit ihr passiert nicht erklären. Vielleicht hilft mein Bericht dabei ein bisschen.


Ich habe mir psychologische Hilfe gesucht. Etwas, was ich jedem in dieser Situation dringend ans Herz legen möchte. Ich tat es, um in mein Leben zurück zu finden. Eine Illusion, denn das Leben davor gab es nicht mehr. Ich musste lernen damit irgendwie klar zu kommen und zuzulassen, dass ich das Vorher loslassen muss, da das Leben jetzt anders weiter geht.


Ich dachte nicht, dass ich jemals wieder glücklich sein könnte, doch ich bin es. Ich lebe intensiver aber ich lebe auch mit einer ständigen Verlustangst im Nacken. Der Alptraum lässt mich nicht los. Ich höre meinen Mann oder die Katzen nicht atmen, er kommt etwas später als erwartet nach Hause, ein Rettungswagen oder Hubschrauber kreuzt seinen Heimweg zur passenden Zeit und ich gerate in Panik. Mittlerweile schaffe ich es wieder ruhig zu werden, doch die Angst bleibt. Durch jahrelange Therapie habe ich es geschafft einigermassen mit dieser Angst Ihr zu leben. Ihr nicht nachzugeben, nicht vor Grauen über das, was sein könnte, zusammen zu brechen.


Der Alptraum der Nacht des 29. April und seine Folgen sind nach wie vor meine Begleiter. Ich weiss nicht, ob es jemals anders wird, doch wie soll es das auch? Es ist in dieser Nacht etwas geschehen, das ich bis heute nicht verstanden habe. Jürgen und ich haben vor dem Schlafen gehen auf mein neues Motorrad angestossen und Pläne für den nächsten Tag geschmiedet. Und dann war er plötzlich nicht mehr da.


Ich schreibe dies für die Menschen, die einen solchen Verlust erleben müssen. Vielleicht hilft es Ihnen, den Bericht einer Betroffenen zu lesen.


Ich schreibe dies für die Mitbetroffenen, die Familien, die Freunde, die Kollegen und Bekannten, die hilflos und überfordert vor einer unfassbaren Situation stehen. Die betroffene Person kann nicht erklären was mit ihr ist. Sie kann das Erlebte nicht in Worte fassen. Habt Geduld mit ihr. Habt Verständnis für irrationales Verhalten. Was nicht heisst, bei selbstgefährdendem Verhalten zu unterstützen oder stillschweigend alles hinzunehmen und zu akzeptieren, was die Person tut. Wartet nicht darauf, dass Sie Euch um Hilfe bittet, sie kann es nicht. Findet heraus, ob und wo sie Hilfe benötigt. Nach einem Todesfall sind viele Formalitäten zu erledigen. Dinge müssen organisiert und sortiert werden. Schaut, ob ihr dabei helfen könnt. Forscht nach, ob die betroffene Person finanziell und mit den Alltagsdingen wie z.B. Einkaufen, Essen, usw. klar kommt. Ob sie medizinische oder psychologische Unterstützung benötigt.


Wenn sie es zulassen kann, nehmt sie in den Arm ohne zu reden. Es gibt keine passenden oder tröstenden Worte. Das was die Person benötigt, ist Halt. Ich hatte das Gefühl ebenso wie meine Welt auseinanderzubrechen. Es waren keine Worte die mir geholfen haben, sondern die schweigende Umarmung einer Freundin.


Meidet es nicht vom Verstorbenen zu reden. Es ist natürlich, dass man sich nicht traut über den Toten zu sprechen, da man den anderen nicht verletzten will. Doch das Totschweigen kann es noch schlimmer machen. Mir gab es das Gefühl alle hätten Jürgen sofort vergessen. Ich habe es zum Glück geschafft, dies zu verbalisieren so dass man mit mir über Erlebnisse mit Jürgen sprach, wir gemeinsam darüber lachten und den Verlust beweinten. Es ändert nichts am Schmerz und den Alpträumen, doch es gab mir das Gefühl gehalten zu werden, nicht in einen bodenlosen Abgrund zu fallen und nicht zu zerspringen.


Trauer ist ein komplexer, höchst individueller Prozess für den es kein Patentrezept oder eine Zeitvorgabe zur Beendigung gibt. Jeder trauert anders und unterschiedlich lang. Wichtig sind meiner Meinung nach Zeit und eine ausgebildete Begleitung.


Mein Wunsch an Euch alle ist: Sagt Euch was Ihr einander bedeutet. Nehmt nichts und niemanden als selbstverständlich hin. Nehmt die kleinen Dinge des Lebens wahr. Geht niemals im Streit auseinander oder ohne Unstimmigkeiten geklärt zu haben ins Bett.


Jürgen und ich hatten eine wundervolle Zeit. Natürlich hatten wir auch unsere Probleme und nach seinem Tod musste ich feststellen, dass man einem Menschen nie so gut kennt wie man denkt. Doch ich bin unendlich dankbar das unsere letzten Worte ein glückliches „Ich liebe Dich“ waren.


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